September 2013. Ich liege auf dem Bett, die Beine übereinandergeschlagen und starre an die Decke. Das hartnäckige Dröhnen der Klimaanlage wird nur durch den melodischen Sing-Sang der wuseligen Putzfrauen unterbrochen, die wie Freibeuter in die Zimmer stürzen, ihren Staubwedel schwingen und die Mini-Bars der Touristen auffüllen. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich werde auch den Taxifahrer nicht verstehen, der mich in einer Stunde zum Flughafen bringt. Xiaoling Cheng hat mir einen Zettel geschrieben, wie er üblicherweise Hunden oder Katzen um den Hals gehangen wird, um im Verlustfall dem Finder die genaue Adresse mitzuteilen. Als ich in meiner Tasche nach dem Pass wühle, stoße ich auf einen zusammengefalteten Zettel. ´Was Schüler über China denken´ steht auf dem Papier. Ich erinnere mich.
Vertretungsstunde in der fünften Klasse. Sechste Stunde. Sommerliche Temperaturen. Die Motivation der Schüler ging linear gegen null. Nach der Begrüßung schnappte ich mir ein Stück Kreide und schrieb folgenden Satz an die Tafel: Das kommt mir chinesisch vor. Kein Ratgeber, keine Internetrecherche, Kindermund tut Wahrheit kund. Sollten mir doch meine Schüler verraten, was mich in acht Tagen im bevölkerungsreichsten Land der Erde erwartet. Mein bisheriger Erfahrungsschatz beschränkte sich auf drei Chinesen mit dem Kontrabass, die sich irgendwas erzählten und anschließend Stress mit der Polizei hatten. „Also, was wisst ihr über China?“ Lukas runzelte die Stirn. „Was willst du denn da?“, rief Ashton in die Klasse.
Ashton ist zweifelsohne die Reinkarnation von Michel von Lönneberga. Strohblondes Haar, Zahnlücken so groß wie Backsteine und eine Allergie gegen branchenübliche Schulregeln wie Aufzeigen. Die unerwartete Aufmerksamkeitsspanne bloß nicht durch einen einschläfernden Monolog zerstören, schoss mir durch den Kopf. „Ihr wisst ja, dass ich Sport studiert habe und auch als Fußballtrainer arbeite, richtig?“ Einige nickten, andere gähnten. Lukas bohrte in der Nase. „Die Chinesen wollen von uns lernen, wie man Vereine aufbaut, im Jugendfußball professionell arbeitet und…“. „Ist ja wie Nachhilfe im Fußball“, fiel mir Maik ins Wort. „Absolout“, stimmte ich ihm zu. „Aus diesem Grund besuchen wir die Sporthochschule in Shenyang, einige Profiklubs und treffen sogar einen Sportminister.“ „Bist du Trainer von China?“, fragte Justus. „Sehr stark vereinfacht kann man das so sagen.“ Zu meiner Überraschung schossen mehrere Hände nach oben. „Die haben doch einen Kaiser“, sagte Dennis, woraufhin Sharif mit den Augen rollte und ein Papierkügelchen an den Kopf des Informanten donnerte. „Ey, du Knecht. Kaiser gibt´s nicht mehr.“ Meinen strafenden Blick quittierte er mit einem Zahnpastalächeln, in der Hoffnung einer weiteren Maßregelung meinerseits zu entkommen – mit Erfolg.
Schlangen in der Schubkarre – Shenyang
Der Presslufthammer reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ich gehe zum Fenster und schaue auf die Baustelle, die sich kurz unterhalb von mir in immer noch beachtlicher Höhe befindet und mir einen unzensierten Einblick in die chinesische Seele bietet. Während ein kleiner Mann sein schweres Gerät in die Betonplatte rammt, schlafen seine zwei Kumpels nur wenige Meter entfernt. Eingerollt wie Schlangen liegen sie in ihren Schubkarren. Alle Viere von sich gestreckt und mit Ohrenschützern, um den Lärm erträglich zu machen. Mir ist es auch zu laut, ich schließe das Fenster und setze mich anschließend wieder aufs Bett und blicke auf die Liste. Als könnte ich die Erinnerung dadurch lebendiger machen, streiche ich über das Wort Kaiser und schließe meine Augen.
Ich stand im Kaiserpalast Shenyang Gugong vor der Dazhenghalle mit dem Kaiserlichen Thron und blickte von einer Erhöhung auf den großzügigen Marktplatz. So wie vor 350 Jahren Nurhaco und Abaha, Kaiser aus der Qing-Dynastie auf ihre Gäste und ihr Volk geschaut hatten. Vor mir bildete sich eine Menschentraube. Gemurmel. Vereinzeltes Gelächter. Das Volk schaute zu mir auf. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich die nostalgische Atmosphäre und fühlte mich wie ein wahrhaftiger Kaiser. Problem nur: Die Menschen erstarrten bei meinem Anblick nicht in Ehrfurcht. Ganz im Gegenteil: Sie lachten, klatschen und knipsten Fotos. Den Grund dafür hielt ich im Arm: Liang war eine 80-jährige Frau aus der Bergregion Chinas, vital, lebenslustig, aber nicht gerade das Sinnbild einer kaiserlichen Schönheit. Zusammen mussten wir urkomisch aussehen. Ich bin groß und Liang ist winzig.
Kevin der Klamotten-Clown – Klassenzimmer
„Was wisst ihr noch über China?“ Niemand meldete sich. Ich zog den Lina-Joker. Lina verweigerte erfolgreich die aktive mündliche Mitarbeit, verblüffte mich dann aber immer wieder mit erstaunlichem Hintergrundwissen. Sie leuchtete wie ein Glühwürmchen um Mitternacht, als ich ihren Beitrag einforderte. „Tragen die meisten Chinesen nicht die gleiche Kleidung?“, fragte sie mich mich erwartungsfroh. „Die tragen alle so Säcke wie du“, lästerte Kevin, die Jungs in der letzten Reihe lachten. Ich räusperte mich. „Kevin, trägst du etwa nur Designer-Klamotten?“, fragte ich während dieser seine aufgelegte Baseballkäppi auf den Tisch legte. „Ja genau Herr Watermann, nur echte Marken. Ich schwöre.“ Ich nickte anerkennend. „Liebe Schüler, hiermit verkünde ich, dass Kevin nur Designer-Klamotten trägt.“ Jetzt habe ich dich, denke ich triumphierend und gönne mir eine Wirkung verstärkende Sprechpause. „Die seiner Mutter“, ergänzte ich schließlich und kicherte. Stille. Die Schüler starrten mich aus ratlosen Augen an. Aston drehte sich um.„Kevin, trägst du echt ma die Klamotten von deiner Mudda?“ Nur Lina lächelte.
In Badelatschen über die Fashionstreet – Shenyang
Die Chinesen zumindest trugen echt ma die Klamotten von ihrem Vadda. Dem Übervater sozusagen, Staatschef Mao-Zedong trug 1949 bei der Ausrufung der Volksrepublik Chinas den Mao-Anzug, der stilistisch das Vorbild einer ganzen Generation wurde.
Sollte es heute noch vereinzelt Mao-Anzug-Fetichisten in zweiter Generation geben, trauen sie sich zumindest nicht auf die Laufstege der neuen Generation. Auf der Taiyuan Nanjie, der Shenyanger Fashion Street, im Zentrum der Stadt entdeckte ich keine pajettenbestickten, verstaubten Anzüge. Ganz im Gegenteil. Die Jugend kleidet sich bunt und schrill, in etwa so als würde man sich in Europa eine Zeitreise in die achtziger Jahre gönnen. Hier herrschte offensichtlich ein Kampf der Kulturen. Alles blinkte, rappelte und quietschte in den kleinen, spartanisch eingerichteten Büdchen auf der rechten Seite, während sich auf der linken Seite die Schaufenster moderner amerikanischer und europäischer Modelabels eine Vorherrschaft zu erkämpfen versuchten. Ich selbst werde wohl kaum als Trendsetter in die Geschichte der chinesischen Mode-Dynastie eingehen. Ich schlenderte unfreiwillig mit Badelatschen und verschwitztem Poloshirt über die Flaniermeile.
Als ich drei Stunden zuvor niedergeschlagen nach einer 18-stündigen Anreise am Gepäckband gekauert hatte, kreisten nur noch meine Gedanken, nicht mehr die Koffer. Beim Verladen wurde mein Gepäckstück beim Zwischenstopp in Peking vergessen. Na prima. In der Erwartung noch ein bisschen länger auf meine Klamotten warten zu müssen, kaufte ich mir für umgerechnet zwei Euro eine Boxershort von Mercedes Benz. „Original“, wie mir der Verkäufer versicherte. Gibt es nicht? Und ob. Die Chinesen lieben Markenklamotten, völlig egal, ob der Hersteller wie in meinem Falle eigentlich Autos baut und Name und Logo auch noch falsch geschrieben sind.
So entdeckte ich bei meinem Bummel auch noch alidas T-Shirts, ein verwirrtes Lacoste-Krokodil, das in die falsche Richtung schaute und Naik-Schuhe. Linas Vermutung konnte ich also ebenso wenig bestätigen wie die von Kevin, der unter solidarischem „Ihhh“ der Mitschüler behauptete: „Die Schlitzaugen essen Hunde und Katzen.“
Seidenwürmer, Hühnerfüße und Krabben – Shenyang
In der Tat waren die kulinarischen Besonderheiten der Region für meinen eher traditionell geprägten Münsterländer Magen wohlwollend ausgedrückt äußerst exotisch. Ich lehnte die Angebote in der Regel dankend ab, nicht zuletzt, weil mich die Handhabnung der Stäbchen unfreiweillig auf Diät setzte. Alles fiel herunter, noch bevor ich annährend den Mund erreicht hatte.
Ich erinnerte mich an Professor Yuqing Wang, der uns zu einem traditionellen chinesischen Grillen am Fuße eines kleinen Berges einlud. Es goss wie aus Kübeln, wir saßen zusammengepfercht unter Zelten, die den apokalyptisch-anmutenden Regenmassen mutig trotzten. Auf der einen Seite saßen die Vertreter der deutschen Delegation, unter ihnen auch der Borkener Bürgermeister Rolf Lührmann und der Präsident des Westfälischen Fußballverbandes Hermann Korfmacher. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte es sich die chinesische Delegation, bestehend aus hochrangigen Vertretern der Sporthochschule, bequem gemacht. Getrennt durch Seidenwürmer, Hühnerfüße, Krabben und Schafsfleisch. Der griff nach den Wasserkaraffen entpuppte sich als echter Stimmungslöser.
Den eifrigen Vorkostern entgleisten die Gesichtszüge, handelte es sich doch irrtümlicherweise um einen landestypischen Birnenschnaps. Die Stimmung wurde gelöster und wenn es Ereignisse im Leben eines Menschen gibt, die surreal und gleichzeitig angehm vertraut daherkommen, war es jener Nachmittag vor den Toren der 8-Millionen-Metropole im Nordosten Chinas. Da unsere Dolmetscherin mal eine Pause brauchte, kommunizierten wir mit den Chinesen auf eine gleichermaßen traditionelle wie ungewöhnliche Weise: Wir sangen. Deutsches Liedgut am anderen Ende der Welt. Die Lust der Müller am Wandern wurde von der chinesischen Delegation eiskalt durch ein Lied zu Ehrung des Kaiserreichs gekontert. Da konnte selbst der Klassiker ´So ein Tag, so wunderschön wie heute´ nicht heranreichen. Klarer Punktsieg für die Asiaten, die mir ihrerseits versicherten, dass Hund und Katze ausschließlich auf dem Speiseplan vereinzelter Restaurants im Süden standen.
Schnick-Schnack-Schnuck mit Tarzan und Jane – Shenyang
Das Telefon auf meinem Nachtschränkchen klingelt. Die Rezeptionistin versucht mir irgendwas zu erklären. „Taxi?“, frage ich mehrmals. Selbst mit blühender Fantasie und drei Jahren Lateinunterricht lässt sich nichts von dem erahnen, was sie mir mitzuteilen versucht. Womit sich das nächste Klischee absolut bewahrheitet hat: Chinesen sprechen kaum Englisch. Die meisten nicht ein einziges Wort. So wie Frau Du Yan West von der Rezeption des Hotels.
Ich wollte herausfinden, ob mein Gepäck vom Flughafentransport wie versprochen schon geliefert worden sei. Die Worte suitcase, plane und airport brachten mich in der Problemlösung kein bisschen weiter. Meine Strichmännchenzeichung, die nicht ansatzweise an die Künste eines versierten Höhlenmalers heranreicht, gruben nur tiefe Furchen der Verständnislosigkeit in ihr Gesicht. Meine Gebärdensprache sorgte für Erheiterung bei vorbeischreitenden Hotelgästen und erinnerte an die tapsigen Versuche von Kevin Costner im Film ´Der mit dem Wolf tanzt´ seinen indianischen Freunden mitzuteilen, dass er Büffel gesehen habe. „Ah“, sagte die Rezeptionistin schließlich und schüttelte bedauernswert ihren Kopf. Gemessen daran war meine Unterhaltung mit Ying fast schon ein kulturelles
Reich-Ranicki-Gedächtnisfeuerwerk. Ying saß mit vier Kumpels nur einen Steinwurf vom Hotel entfernt auf verdreckten Klappstühlen vor einem dampfenden Grill. Das ungeschminkte Straßenleben der Chinesen in seiner authentischten Version. Mit Xiaoling Cheng und Professor Rittner knabberte ich an Fleischspießen, deren Anblick jedem deutschen Lebensmittelprüfer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Ausdruck des Entsetzens in die Augen gezaubert hätte. Die China-Gang vom Nachbartisch spielte eine Variante von Schnick-Schnack-Schnuck, dessen Ausgang immer damit endete, dass einer einen tiefen Schluck aus einer Schnapsflasche nehmen musste. Ob als Belohnung oder Bestrafung erschloss sich meinen Beobachtungen nicht. Ying trug nur ein Unterhemd und eine verdreckte Hose.
Wohlwollend ausgelegt hatte er noch vier Zähne im Mund. Woher ich das wusste? Er lächelte regelmäßig zu uns herüber, was mich zugegebenermaßen nervös machte. Dann stand er auf und torkelte bemüht zielgerichtet auf mich zu. „Ying“, sagte er und reichte mir die Hand. „Jens“, antwortete ich ihm unbeeindruckt und bevor ich ihm einen Platz anbieten konnte, saß er schon fast auf meinem Schoss.
Es entwickelte sich ein Gespräch auf einem sprachlichen Tarzan-Jane-Niveau, was allerdings nicht an meinem Englisch lag. „I love German beer“, sagte der forsche Mittzwanziger und ich tat ihm den Gefallen, alle Biersorten aufzuzählen, die mir spontan in den Sinn kamen. Ying gluckste vergnügt, bedankte sich höflich und gesellte sich wieder zu seinen Freunden.
Lennart kann sprechen – Klassenzimmer
Dicke Freunde waren auch Ashton und Lennart, wobei gerade Lennart den pfundigen Teil der Freundschaft übernahm. Und das lag nicht an einer falschen Ernährung. Lennart bewegte sich einfach nicht, was eine aktive Kalorienverbrennung schier unmöglich machte. Regungslos verharrte er den ganzen Vormittag auf seinem Platz. Nur einmal in der Stunde schmiss er traditionell sein Etui runter, sämtliche Stifte purzelten unter dem Gejohle seiner Mitschüler auf den Boden, was mich gleichermaßen nervte und beruhigte. Er lebte und ich konnte mit dem Unterricht fortfahren. Mir schoss es fast die Tränen der Rührung in die Augen, als er seinen Arm hob. „Musst du auf Toilette, Lennart?“ fragte ich ihn ungläubig.
„Ne, der war gerade schon pissen“, informierte mich Ashton, wofür ich ihm sehr dankbar war. „Ich habe mal gesehen, dass Chinesen einen Mundschutz tragen, weil die Luft dort so dreckig ist.“ Rollentausch. Lennart redete, ich war sprachlos. Was für ein kluges Kerlchen.
Nahtoderlebnis auf den Straßen Chinas – Sehnyang
Smog. Dieser graue, gnadenlose Chemieteppich, der die fröhlichen Menschen in vermummte, befremdliche Kreaturen verwandelt. Landluft wird in Teilen Chinas sogar in Flaschen und Dosen abgefüllt und der arg gebeutelten Stadtbevölkerung als Spontantherapie gegen verstaubte Lungen angepriesen. Dabei liegt der Ursprung des Übels für jeden ersichtlich auf den Straßen Chinas. Dieser Luft verpestende Verkehr, dem selbst die kleinsten Vertreter des Landes mutig trotzten und unvergessliche Bilder in mein Unterbewusstsein brannten. Wie das des kleinen Jungen, dessen Fluchtreflex ihn auf seinem Dreirad zurück auf die Straßen von Shenyang trieb. „Wiguóchuán“, rief er mir panisch hinterher, was soviel wie Ausländer bedeutet, ehe er auf der anderen Straßenseite verschwand. Als großer, blonder Mensch passte ich so gar nicht in das Weltbild des erschrockenen Drei-Käse-Hochs, dem der wahnwitzige Verkehr viel weniger auszumachen schien als die unfreiwillige Begegnung mit einem blonden Riesen. Verkehr beinhaltet nach europäischen Verständnis die Reglementierung des Fahrverhaltens durch Vorschriften und die Verwendung der Hupe ausschließlich in Gefahrensituationen.
Zumindest im Münsterland, wo es gefühlt jeder Auffahrunfall in die Nachrichtensspalte der Lokalzeitung schafft. An diesem Eldorado für Extremfahrer wäre das Verzichten auf den Einsatz der Hupe grob fahrlässig. Ich rief mir ein Taxi. Wir passierten unzählige in Smog gehüllte, graue Wohntürme, die wie betonierte Riesenzahnstocher in den Himmel ragten.
Plötzlich tauchte eine etwa fünfjährige Chinesin auf, die traumverloren in die Luft blickte, mit stoischer Ruhe die Straße kreuzte und dabei ihren arg ramponierten Teddybären streichelte. In China ist der Verkehr auch Marktplatz, Treffpunkt, Kinderzimmer, Schaufenster und Spielplatz. Das kleine Mädchen zottelte unter dem ohrenbetäubenden Gehupe genervt von dannen, schleifte ihren pelzigen Freund hinterher und trabte zum rettenden Grünstreifen auf der gegenüberliegenden Seite. Der Taxifahrer fluchte und nahm eine Abkürzung über den Bürgersteig. Dort kam uns ein Gemüsehändler entgegen, auf der Ladefläche seines Mopeds knabberte seine Familie an Maiskolben. Es folgte eine Vollbremsung vor einem alten Mann, der auf einer Kreuzung telefonierte. Muss wichtig gewesen sein. Dann tauchte ein Rudel Jugendlicher auf. Sie klopften auf die Autodächer der wartenden, verbeulten Karossen. Der Taxifahrer hupte den Halbstarken das Grinsen aus dem Gesicht. Nach knapp einer Stunde erreichte ich das Hotel. Nassgeschwitzt und hyperventilierend. Ohne das traumatische Erlebnis wirklich verarbeitet zu haben, sprang ich in ein frisches Hemd, schnappte mir mit dem Bürgermeister ein anderes Taxi.
Dem aufbrausenden Verkehr Shenyangs entflohen, bot sich uns ein surreales Schauspiel. Verwaiste Straßen, Reisfelder so groß wie Kleinstädte und eine Dunkelheit, die alles zu verschlucken drohte. Wie eine Fatamorgana tauchte ein gigantischer Bungalowkomplex auf. Ein Bild wie aus 1001 Nacht. Eine Lichterstadt, eigens für die Sportler der chinesischen Meisterschaft errichtet. Die Doppelspitze des Sportministeriums Yongyan Sun und Kai Song, dessen anfängliche, standesbedingte Zurückhaltung mit jedem Gambe(deutsch: Prost) ein wenig bröckelte, erwartete uns. Wir tanzten, tranken und sangen Karaoke. Am anderen Ende der Welt in einer glamourösen Geisterstadt.
Zurück in meiner Welt – Hotelzimmer Shenyang
Ich schleife meinen Koffer über den Teppich des Hotelflures, nehme den Aufzug und erblicke durch die Glasfront ein Taxi vor dem Hotel. Ich winke der Rezeptionistin zum Abschied. Sie lächelt mich an. Damit haben wir die Möglichkeiten unserer Kommunikation absolut ausgereizt. Kurz bevor ich in die Drehtür schreite, zerknülle ich die Schülerumfrage und werfe sie in den Papierkorb. „Ihr habt doch keine Ahnung.“ Dann drücke ich dem Taxifahrer meinen Zettel in die Hand. Er nickt. Jetzt geht es zurück. Zurück in eine andere Welt. Zurück in meine Welt.